Schluss mit dem Berufungsquatsch – Entspannung mit dem inneren Genius!

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Schluss mit dem Berufungsquatsch – Entspannung mit dem inneren Genius!


Berufung wird im rechtlichen Sinne definiert als der Ruf in ein bestimmtes Amt oder eine Aufgabe. In der neueren Berufungsdiskussion ist Berufung so etwas wie ein innerer Drang, eine bestimmte Lebensaufgabe zu erfüllen. Diese müsse meist aktiv gesucht werden, da der Mensch dann erst glücklich und zufrieden arbeiten könne. In biblischen Geschichten oder auch in modernen Sagas ist spannenderweise der Held meist wenig begeistert, wenn ihn der Ruf ereilt, weil der immer deutlich außerhalb seiner Komfortzone liegt, denken Sie nur an Jona, der der Stadt Ninive ihren Untergang vorhersagen sollte, oder Frodo, der auch nicht gerade scharf darauf war, nach Mordor zu ziehen. Warum sind also viele Menschen heutzutage so erpicht darauf, diese Berufung zu finden?

Ich vermute, das hängt damit zusammen, dass die Welt immer komplexer wird und die Berufung nun die für alle Zeiten gültige Antwort geben soll, was Menschen denn mit ihrem (beruflichen) Leben anfangen sollen. Wird ihnen die Berufung sozusagen von außen zugesprochen, wie das in manchen evangelikalen Kreisen der Fall sein kann, ist ihnen damit eine große Lebensentscheidung abgenommen. Wehe aber, die Berufung ist zu wenig greifbar oder erweist sich als „Luftnummer“. Und was ist denn eigentlich mit den Menschen, die nicht an eine Berufung glauben. Können die nicht glücklich und erfüllt arbeiten?

Das ewige Warten auf die „eine“ Berufung bringt’s nicht

Manche Menschen sitzen jahrzehntelang in der Wartehalle ihres Lebens und warten darauf, dass der Berufungszug sie abholt, während die verschiedensten anderen Transportoptionen wie Kutschen, Fahrräder, Segways an ihnen vorbeiziehen, die sie auch an spannende berufliche Orte bringen würden, aber sie steigen nicht auf – schade eigentlich.

Ich vertrete die Auffassung, dass es „die Berufung“ nicht gibt und dass Menschen auf der Jagd nach ihrer Berufung und ihrem absoluten Traumjob eher unglücklicher werden. Wenn in der Laufbahnberatung ein sehr umfassendes Profil des Menschen erarbeitet wurde, ist es immer noch möglich, jede Menge Ideen zu entwickeln, was dieser Mensch mit diesem spezifischen Profil tun könnte. In der bekannten Übung „Fünf Leben“ von Barbara Sher wird beispielsweise deutlich, dass mit der gleichen Person in einem anderen Leben alles ganz anders hätte kommen können. Wichtiger ist meines Erachtens, den passenden beruflichen Entwurf für die jeweilige Lebens- und Arbeitsphase zu entwickeln, der auch noch gut in unser aktuelles Umfeld passt oder passend gemacht werden kann.

Besser: Den roten Faden finden

Dieser Entwurf kann alle paar Jahre wieder zur Disposition stehen. Wir wünschen uns alle, dass er immer mehr konvergiert mit dem, was wir als unser authentisches Selbst empfinden. Dieses Selbst ist zwar relativ stabil, entwickelt sich aber mit unserem Leben auch durch unsere Lebensumstände und beruflichen Erfahrungen weiter. So findet bestenfalls ein Annäherungsprozess mit verschiedenen beruflichen Stationen statt, die immer aktiv gestaltet werden müssen und dürfen. Ziel ist meines Erachtens, die Geschichte unseres roten Fadens fortzuschreiben. Dieser rote Faden kann beispielsweise im Konstrukt des inneren Genius‘ formuliert werden, den ich hier als Alternative in die Berufungsdiskussion einbringen möchte. Der Genius ist aber nicht als konkrete Berufungsbeschreibung zu verstehen, weil das Wirkprinzip ebenfalls sehr breit in den unterschiedlichsten Tätigkeiten und Kontexten einsetzbar ist.

Die Idee des inneren Genius gibt es schon in der Antike. Dort war der Genius als eine Art persönlicher Schutzgeist und in anderen Kulturen ebenfalls ein dienender und schützender Geist zu verstehen. Er galt als Ausdruck der Persönlichkeit und bestimmte das Schicksal eines Menschen. Man kann ihn am besten als internes Wirkprinzip verstehen.

Der innere Genius als unkomplizierter Leitstern

Die Formulierung des inneren Genius hilft Menschen, die in der Laufbahnberatung nach Sinn und Antworten für ihre Lebensgestaltung suchen, ihren roten Faden klarer zu fassen und ihn in der Umsetzung der beruflichen Ideen zu verwirklichen. Ist er sprachlich gefasst, kann er als Leitstern oder Leuchtturm bei Entscheidungen dienen.

Gleichzeitig ist im inneren Genius etwas formuliert, das sich Menschen zutiefst von der Welt wünschen. Und weil es ihnen so wichtig ist, werden sie auch für andere dafür sorgen, dass von diesem Genius mehr in die Welt kommt. Immer wieder ist im Kontext des inneren Genius zu lesen, dass der Genius ein Geschenk ist, das Sie sich selbst aber auch den Menschen in Ihrem Umfeld und letztlich der Gesellschaft machen.

Der amerikanische Autor Dick Richards hat ihn in mehreren Büchern für die heutige Welt beschrieben:

„Der Genius ist die Energie, die mich im Innersten ausmacht und bewegt.“

Er zeigt viele Methoden auf, mit denen man sich dem eigenen inneren Genius annähern kann. Die Suche nach dem inneren Genius kann sehr schnell zum Erfolg führen und direkt in der Laufbahnberatung in einem „Aha-Moment“ erfolgen, sie kann aber auch ein längerer einkreisender Prozess sein, der in der Laufbahnberatung nur angestoßen werden kann. Gleich zeige ich Ihnen, wie Sie selbst auf die Suche gehen können.

Keine Eile!

Der innere Genius kann ein Leben lang umgesetzt werden. Es ist kein einmaliger „Akt“, ihn zu leben. Sie dürfen sich erlauben, immer mehr die Umstände und Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass sie zu Ihrem inneren Genius und damit zu Ihrem Wesenskern passen – ich finde das unglaublich entspannend. Ich weiß, dass ich mit meinem Genius auf dem richtigen Weg bin, das entlastet. Und er ist so breit und flexibel einsetzbar, dass ich meinen Job und dessen Zusammensetzung immer wieder neu auf meine inneren Entwicklungen und äußeren Herausforderungen anpassen kann. Das scheint mir menschenfreundlicher zu sein als eine „hehre Berufung“, die von irgendwoher (gerne auch durch selbsternannte Gurus) über mich hereinbricht…


So finden Sie Ihren Genius – reiben Sie doch mal Ihre innere Lampe

Machen Sie es sich gemütlich. Sie werden schon mindestens ein Stündchen für die folgende Arbeit brauchen, aber es lohnt sich! Nehmen Sie sich eine Tasse Tee oder Kaffee, mehrere Blatt Papier, etwas zu schreiben, ein Tablet oder einen Laptop und dann kann’s losgehen. Die Arbeit am inneren Genius ist sprachliche Arbeit, schreiben Sie deswegen alle Gedanken zu den folgenden Schritten auf. Das ist Ihr Wortmaterial, aus dem Sie Ihren inneren Genius basteln werden.

Zentrale Fragen

Beantworten Sie für sich folgende Fragestellung (in Anlehnung an eine Fragenzusammenstellung von Roland Varduhn).

  1. „Für welches Thema, Anliegen, für welche Aufgabe brenne ich?
    Wofür würde ich wirklich alles auf den Tisch lege und meine besten Kräfte wecken?
  2. „Was haben andere Menschen davon, dass es mich gibt?“ Karl Pilsl. Was will ich bewirken?
  3. Das, was ich der Welt zu geben habe ist das, was ich selbst am dringendsten brauche! Wenn der Satz wahr wäre, was würde das sein?
  4. Wenn ich wüsste, ich bin erfolgreich – was würde ich sein, tun und haben wollen?
  5. Was (davon) liebe ich so sehr, ist mir so wichtig, dass ich dafür bereit bin den „Preis zu bezahlen“, dafür auf anderes zu verzichten oder mich ins Zeug zu legen?

Vertiefung

Sie können noch tiefer hinschauen, indem Sie an die oben gegebenen Antworten mehrfach die Frage stellen: „Warum?“ oder alternativ „Wozu ist es gut? Wozu dient es?“

Visuelle Absicherung

Suchen Sie sich zwei bis drei Bilder im Internet, die symbolisch für Ihr bestes Selbst stehen (z.B. eine offene Tür, ein cooles Cabrio, einen buntes Blumenarrangement). Lassen Sie sich durch Bilderseiten treiben oder suchen Sie nach bestimmten zentralen Begriffen, hören Sie dabei immer auf Ihre Intuition. Sie müssen auf den ersten Blick nicht verstehen, warum Sie dieses Bild „anspringt“. (Auf www.pixabay.com gibt es beispielsweise viele kostenlose Bilder). Dann halten Sie Ihre Assoziationen zu den zwei bis drei Bildern ebenfalls schriftlich fest.

Auswertung

Streichen Sie nun die wichtigsten Verben, zentrale Substantive und Wendungen in Ihren Antworten aus Schritt 1 bis 3 an. Die wichtigsten sind die, die mit Ihnen in Resonanz gehen und Sie positiv und leicht „erregend“ gefühlsmäßig ansprechen. Formulieren Sie daraus einen Satz nach dem Muster: Ich + aktives Verb (z.B. fliege, gestalte, unterstütze, lebe) + Ziel/Zielgruppe, indem ich + weiterer Satzteil. Es kann sein, dass Sie mit diesem Leit-Satz schon sehr glücklich sind, dann ist alles gut und Sie können hier aufhören.

Der klassische Genius besteht aus zwei Wörtern. Wenn Sie Ihr Ergebnis also noch ein bisschen mehr zuspitzen möchten, dann versuchen Sie diesen Satz zu einem mottoartigen Zweiwortsatz zu verdichten und finden Sie heraus, worum es Ihnen wirklich wirklich geht.

Beispiele für klassische Genii: Freude leben, Menschen zusammenbringen, mich verwirklichen, Kinder stark machen, Strukturen schaffen, Natur bewahren etc.

Herzlichen Glückwunsch! Sie sind einem erfüllten Arbeitsleben einen großen Schritt näher gekommen, wenn Sie nun möglichst oft versuchen, Ihren Genius zu leben. Und die Welt wird es Ihnen danken, weil der Genius nicht nur ein Geschenk an Sie, sondern Ihr Beitrag ist, den Sie allen schenken.

Schreiben Sie Ihren inneren Genius gerne in die Kommentare zu diesem Artikel. Ich freue mich darauf!

Zur Vertiefung:

Richards, D.: Is Your Genius at Work?: 4 Key Questions to Ask Before Your Next Career Move. Nicholas Brealey 2005

Martina Nohl